Prof. Dr. Gundula Barsch (Januar 2017) – Text als PDF herunterladen
Zum Einfluss politischer Maßnahmen auf den Konsum von Marihuana in der Bevölkerung
Eine der zentralen Grundfragen in Bezug auf eine drogenpolitische Regulierung ist die nach den tatsächlichen Effekten, die politische Regelungen auf die Verbreitung des Konsums von Drogen in einer Bevölkerung haben. Was zeigen die Daten?
- Sowohl in dem Bundesstaat Colorado als auch Washington sind die Konsumraten sowohl in Bezug auf die Lebenszeit- als auch auf die 30-Tages-Prävalenz nach dem Beginn der Umsetzung der Regulierung insgesamt weiter sanft gestiegen. Diese Entwicklungen sind weit entfernt von einem Dammbruch-Szenarium. Vielmehr setzt sich damit nur der Trend fort, der bereits seit 2002 und zudem USA-weit beobachtet wird. Durch diesen ist Cannabis in den USA zu der meist konsumierten illegalisierten psychoaktiven Substanz geworden und dies scheinbar unbeeinflusst durch die Regulierung.
- Interessant ist, dass die Erhöhung der Konsumrate für die Gesamtbevölkerung mit Beginn der Regulierung hauptsächlich auf die Steigerung des Konsums in der erwachsenen Bevölkerung (älter als 26 Jahre) und mit einem geringen Anteil in der Altersgruppe der 12-17Jährigen zurückgeht; für die 18-25Jährigen finden sich sogar rückläufige Konsumraten. Diese Befragungsergebnisse unterstreichen, dass im Gefolge von Regulierungsprozessen damit gerechnet werden kann, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen – in der Regel ältere Erwachsene, die mit Blick auf die angedrohten Strafen bisher auf den Konsum verzichtet haben – die Chance nutzen, Erfahrungen mit diesem Konsum nachzuholen, ohne diesen als regelmäßigen Konsum in ihren Lebensstil zu integrieren. Es gilt deshalb im Zeitverlauf zu prüfen, ob sich dieser verstärkte Probierkonsum normalisieren wird, sobald die Konsumerfahrungen nachgeholt wurden. Drogenerziehung und Prävention sollten diese sich offensichtlich regelmäßig einstellenden Entwicklungen im Auge haben und mit entsprechender Information, Aufklärung und begleitenden Angeboten dazu beitragen, dass dieser Neugier-Konsum ohne physische, psychische und soziale Folgen bleiben kann.
- Die USA-weiten Daten zur 30-Tage-Prävalenz[1] und zu sporadischem Konsum (Konsum im letzten Jahr) stützen zudem die Hypothese, dass drogenpolitische Regelungen nur bedingt einen Einfluss auf die Verbreitung des Konsums einer Substanz in der Bevölkerung haben. Aufschlussreich diesbezüglich sind sowohl die Unterschiede in der Verbreitung des Marihuana-Konsums zwischen den einzelnen Bundesstaaten, als auch in den einzelnen Counties/Landkreisen innerhalb der jeweiligen Bundesstaaten. Darin werden enorme Unterschiede in den ermittelten durchschnittlich Raten des aktuellen Marihuana-Konsums (Konsum im letzten Monat) in der Bevölkerung (älter als 12 Jahre) sichtbar: Diese differieren zwischen 3,93 % im Südosten (Teile von Texas) und 15,46 % in San Francisco. Zu den sechszehn Regionen mit den höchsten Marihuana-Konsumraten gehören acht Staaten im Westen (darunter drei im Bundstaat Colorado, zwei im Bundesstaat Kalifornien und jeweils einer in den Bundesstaaten Alaska, Oregon und Washington), sieben im Nordosten (drei im Bundesstaat Rhode Island, zwei in Vermont und jeweils einer in den Bundesstaaten Maine und Massachusetts) sowie einer im Süden (District of Columbia) der USA (vgl. Hughes, Rachel, Lipari, Williams 2016). Erkennbar wird, dass sich selbst in Bundesstaaten, die im Rahmen ihrer Hoheitsrechte eigene liberale drogenpolitische Regelungen durchgesetzt haben, Regionen mit sehr unterschiedlichen Verbreitungen des Marihuanakonsums finden. Insofern bestätigt sich die Hypothese, dass die Verfügbarkeit einer psychoaktiven Substanz nur einer von vielen Faktoren ist, die die Verbreitung des Konsums beeinflussen (vgl. u. a. Simons, Neal, Gaher 2016, S. 43) und im Vergleich dazu aus anderen sozialen Bezügen weit gravierendere Einflüsse auf den Beginn und die Fortsetzung des Konsums und sein mögliches problematisches Entgleiten kommen. Diese sind jedoch politischen Maßnahmen eher nicht zugänglich.
Forschungsdilemmata
Die Hypothese von einem geringen Einfluss drogenpolitischer Regelungen auf Konsumraten ist keineswegs neu, sondern wurde mit Blick auf die Gleichzeitigkeit epidemiologischer Entwicklungen des Drogenkonsums in den europäischen Ländern und damit unabhängig von den jeweils praktizierten Politikmodellen bereits von Reuband formuliert und belegt (vgl. Reuband 2009, S. 187). Diese findet nun im Zuge der Umsetzung einer Regulierung/Legalisierung des Freizeitkonsums von Marihuana in USA-Bundesstaaten erneut ihre Bestätigung. Bis heute ist allerdings unklar, wieweit veränderte Lebensstile von Jugendlichen, eine andere Wahrnehmung der Risiken, ein Umstieg auf legale (Alkohol) oder auf andere illegalisierte Drogen, ein rückläufiger Zigarettenkonsum oder noch ganz andere Faktoren Einfluss auf die Verbreitung des Cannabiskonsums haben (vgl. ebenda). Diesen Bezügen sollte deshalb in weiteren Forschungen nachgegangen werden.
Zudem sind auch indirekte Einflüsse von Maßnahmen der Entkriminalisierung und Regulierung auf die Verbreitung des Konsums zu prüfen. Hypothetisch lässt sich annehmen, dass Liberalisierungsmaßnahmen auf der einen Seite eine Entstigmatisierung von KonsumentInnen anschieben, weshalb sich mehr InteressentInnen zu einem Konsum entschließen. Auf der anderen Seite kommt aber auch eine Normalisierung des Umgangs mit dieser Substanz in Gang, der sich damit weniger gut als Statussymbol und Distinktionsmedium z. B. für opponierende Lebensstile eignet. Deshalb verliert dieser Konsum für andere Bevölkerungsgruppe an Attraktivität. Insofern können sich überlagernde Entwicklungen angenommen werden, die sich allerdings erstens mit den bisher durchgeführten Studiendesigns nicht erfassen lassen, die zweitens keine direkten Folgen drogenpolitischer Maßnahmen sind, aber drittens von diesen beeinflusst werden. Auch hierzu zeichnet sich Forschungsbedarf ab.
Diese 30-Tage-Prävalenz wird unter „eingeschwungenen“ drogenpolitischen Bedingungen immer als „aktueller Konsum“ gewertet. Es stellt sich aber die Frage, ob eine solche Interpretation auch in der Anfangszeit eines drogenpolitischen Shifts gültig ist? Insbesondere in Anbetracht der sich abzeichnenden Besonderheit, dass beispielsweise nachholende Konsumerfahrungen in Form von Neugier-Konsum eine sich relativ schnell einstellende Besonderheit ist, sollte diese Wertung epidemiologisch anders erfolgen.
Detaillierte Berichterstattung und Literaturverweise unter: http://gundula-barsch.de